Hadmut Danisch
Prüfungsrecht

Verfahren des Überdenkens

Anspruch des Prüflings

  • Nach Art. 12 Abs. 1 GG müssen berufsbezogene Prüfungsverfahren so gestaltet sein, daß das Grundrecht der Berufsfreiheit effektiv geschützt wird. Prüflinge müssen deshalb das Recht haben, Einwände gegen ihre Abschlußnoten wirksam vorzubringen.
  • Bei Staatsprüfungen, wie sie den Gegenstand der Ausgangsverfahren bilden, erfährt der Kandidat stets erst nach Erlaß des Prüfungsbescheides in ausreichendem Umfange, wie seine Leistungen im einzelnen bewertet worden und welche Erwägungen dafür maßgebend gewesen sind. Erst im Widerspruchsverfahren ist ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme und Kritik eröffnet. Deshalb muß dieser Rechtsbehelf hier so ausgestaltet sein, daß die erhobenen Einwände geprüft und gewürdigt werden.
  • Stellt der Prüfling einzelne Wertungen substantiiert in Frage, so ist die Prüfungsbehörde verpflichtet, die Einwendungen den beteiligten Prüfern zuzuleiten. Diese haben auf der Grundlage der Einwendungen eine Nachbewertung der Prüfungsleistungen vorzunehmen, d. h. sie müssen innerhalb des ihnen zustehenden prüfungsrechtlichen Bewertungsspielraums ihre frühere Bewertung überdenken.
  • Aus Art. 12 I GG folgt bei berufsbezogenen Prüfungen ein Anspruch des Prüflings auf effektiven Schutz seines Grundrechts der Berufsfreiheit durch eine entsprechende Gestaltung des Prüfungsverfahrens; danach muß er das Recht haben, substantiierte Einwände gegen die Bewertungen seiner Prüfungsleistungen bei der Prüfungsbehörde rechtzeitig und wirkungsvoll vorzubringen und derart ein "Überdenken" dieser Bewertungen und maßgeblicher Beteiligung der ursprünglichen Prüfer zu erreichen (im Anschluß an BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83 ). [...]

    Den Zweck eines möglichst rechtzeitigen und wirkungsvollen Schutzes des Prüflings in seinem Grundrecht der Berufsfreiheit kann das Verfahren des "Überdenkens" der Prüfungsentscheidung am ehesten dann erfüllen, wenn es möglichst zeitnah zur Prüfung vor einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren stattfindet. [...]

    Die Notwendigkeit eines eigenständigen verwaltungsinternen Kontrollverfahrens in Prüfungsangelegenheiten für einen effektiven Grundrechtsschutz und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an dieses Verfahren hat das BVerfG in seinem Beschluß vom 17.4.1991 (BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83 ) näher dargelegt. Daraus ist zu entnehmen, daß dieses Verfahren nicht dadurch ersetzt werden kann, daß die Prüfungsbehörde Einwendungen des Prüflings - erst - im Verwaltungsverfahrensstreit würdigt.

    Das BVerwG (möglicherweise ein Schreibfehler, gemeint war wohl BVerfG) hat bei berufsbezogenen Prüfungen unmittelbar aus Art. 12 I GG einen Anspruch des Prüflings auf effektiven Schutz seines Grundrechts der Berufsfreiheit durch eine entsprechende Gestaltung des Prüfungsverfahrens hergeleitet. Danach muß der Prüfling die Möglichkeit haben, Einwände gegen die Bewertungen seiner Prüfungsleistungen bei der Prüfungsbehörde "rechtzeitig und wirkungsvoll" vorzubringen, um derart ein "Überdenken" dieser Bewertungen unter Berücksichtigung seiner Einwände zu erreichen. Dieser Anspruch des Prüflings besteht zusätzlich zu seinem Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 19 IV GG; denn die Gerichtliche Kontrolle stößt - wie das BVerfG (BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83 ) ausgeführt hat - an Grenzen, weil der Bewertungsvorgang von zahlreichen Unwägbarkeiten bestimmt ist, die sich in einem Verwaltungsprozeß nur sehr schwer und teilweise gar nicht erfassen lassen; insbesondere ist die durch den Grundsatz der Chancengleicheit gebotene gleichmäßige Beurteilung aller vergleichbaren Kandidaten, zumal auf der Basis der persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen der beteiligten Prüfer, nur erreichbar, wenn den Prüfungsbehörden (genauer: den beteiligten Prüfern) bei prüfungsspezifischen Wertungen ein Entscheidungsspielraum verbleibt und die gerichtliche Kontrolle insoweit eingeschränkt wird. In eben diesem Maß stellt das eigenständige verwaltungsinterne Kontrollverfahren einen unerläßlichen Ausgleich für die unvollkommmene Kontrolle von Prüfungsentscheidungen durch die Verwaltungsgerichte dar und erfüllt damit zugleich - in Ergänzung des gerichtlichen Rechtsschutzes - eine Komplementärfunktion für die Durchsetzung des Grundrechts der Berufsfreiheit (vgl. auch BVerfG, BVerfGE 73,280 ).

  • Damit das Verfahren des "Überdenkens" der Prüfungsentscheidung seinen Zweck, das Grundrecht der Berufsfreiheit des Prüflings effektiv zu schützen, konkret erfüllen kann, muß gewährleistet sein, daß die Prüfer jedenfalls ihre Bewertungen von schriftlichen Prüfungsleistungen hinreichend begründen (vgl. BVerwG, 6 C 3/92 ), daß der Prüfling seine Prüfungsakten mit den Protokollen der mündlichen Prüfung und den Korrekturbemerkungen zu den schriftlichen Arbeiten einsehen kann, daß die daraufhin vom Prüfling erhobenen substantiierten Einwände den beteiligten Prüfern zugeleitet werden, daß die Prüfer sich mit den Einwänden des Prüflings auseinandersetzen und, soweit diese berechtigt sind, ihre Bewertung der betroffenen Prüfungsleistung gegebenenfalls korrigieren sowie alsdann auf dieser - möglicherweise veränderten - Grundlage erneut über das Ergebnis der Prüfung entscheiden. Diese verfahrensrechtlichen Gewährleistungen des Art. 12 I GG sind nur in einem eigenständigen verwaltungsinternen Kontrollverfahren unter maßgeblicher Beteiligung der betroffenen Prüfer zu erfüllen.

    Quelle: BVerwG, 6 C 35/92 ; BVerwG_6C32_92

  • Dieser Anspruch des Prüflings auf ein verwaltungsinternes Kontrollverfahren zum Zwecke des Überdenkens insbesondere der prüfungsspezifischen Wertungen besteht indessen nicht voeraussetzungslos. Dem Recht des Prüflings, auf vermeintliche Irrtümer und Rechtsfehler wirkungsvoll hinzuweisen (BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83 ) entspricht vielmehr nur dann eine Pflicht der Prüfer zum Überdenken ihrer Bewertungen, wenn ihnen "wirkungsvolle Hinweise" gegeben, d. h. die Einwände konkret und nachvollziehbar begründet werden. Dazu genügt es nicht, daß der Prüfling sich generell gegen eine bestimmte Bewertung seiner Prüfungsleistungen wendet und etwa pauschal eine zu strenge Korrektur bemängelt. Vielmehr muß er konkret darlegen, in welchen Punkten die Korrektur bestimmter Prüfungsleistungen nach seiner Auffassung Bewertungsfehler aufweist, indem er substantiierte Einwände gegen Prüferbemerkungen und -bewertungen erhebt. Macht er geltend, daß etwa eine als falsch bewertete Antwort in Wahrheit vertretbar sei und so auch vertreten werde, so hat er dies unter Hinweis auf entsprechende Fundstellen näher darzulegen.
  • Auch in den Fällen, in denen ein gerichtliches Verfahren noch nicht anhängig ist, darf sich die Prüfungsbehörde nicht etwa unter Hinweis auf die noch fehlenden gesetzlichen Vorgaben darauf beschränken, substantiierte Einwendungen des Prüflings gegen Bewertungen seiner Prüfungsleistungen schlicht entgegenzunehmen und eine Stellungnahme dazu einem gerichtlichen Verfahren vorzubehalten; vielmehr müssen solche Einwendungen, um dem Gebot eines rechtzeitigen und wirkungsvollen Schutzes des Prüflings in seinem Grundrecht der Berufsfreiheit bestmöglich gerecht zu werden, unverzüglich den betroffenen Prüfern zum Zwecke des Überdenkens ihrer Bewertungen sowie einer etwa gebotenen Nachkorrektur zugeleitet werden. Dieses verwaltungsinterne Kontrollverfahren unter maßgeblicher Beteiligung der betroffenen Prüfer wird auch nicht dadurch entbehrlich oder "überholt", daß der Prüfling, um nicht durch Versäumung der einmonatigen Klagefrist (§ 74 VwGO) die Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes zu verlieren, noch vor Beendigung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens gegen den Prüfungsbescheid - zusätzlich - mit einer verwaltungsgerichtlichen Klage vorgeht. Auch verliert in einem solchen Fall die Prüfungsbehörde dadurch nicht ihre Befugnis und endet nicht ihre Pflicht, weiterhin in eigener Zuständigkeit und Sachverantwortung die angefochtene Prüfungsentscheidung - insbesondere die substantiiert angegriffenen prüfungsspezifischen Wertungen unter Einschaltung der betroffenen Prüfer - zu überprüfen und gegebenenfalls abzuändern (BVerwG, 6 C 3/92 und BVerwGE_85_163 (166).
  • Werden substantiierte Einwendungen des Prüflings gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistungen von den Prüfern im verwaltungsinternen Kontrollverfahren bzw. Widerspruchsverfahren übergangen, ohne daß der Mangel des Verfahrens nachträglich behoben wird, so ist dem Prüfungsanspruch des Prüflings nicht genügt mit der Folge, daß die Prüfungsentscheidung aufzuheben ist.

    (gilt auch, wenn das Verfahren gar nicht durchgeführt wird).

    Quelle: OVGNW, DVBl. 1996, 436 ; OVGSL_8R23_95; Zimmerling, Rn. 579, 647

Ursprüngliche oder andere Prüfer?

  • (Aus dem Leitsatz:)

    Ist eine Prüfungsarbeit rechtsfehlerhaft bewertet worden (hier: eine vertretbare Lösung als falsch), sind grundsätzlich die ursprünglichen Prüfer bzw. der bisherige Prüfungsausschuß für eine nötige Neubewertung zuständig.

    Eine Neubewertung einer Prüfungsarbeit durch neue Prüfer bzw. einen neuen Prüfungsausschuß ist geboten, wenn sich die ursprünglichen Prüfer bereits dahin festgelegt haben, daß eine Änderung der Note nicht in Betracht komme.

  • Ein Prüferwechsel ist allerdings ausnahmsweise dann erforderlich, wenn die Beanstandung der Prüfungsentscheidung auf Bewertungsfehlern beruht, die Ausdruck fehlender innerer Distanz zum Inhalt der Prüfungsleistung sind, oder wenn sich die ursprünglichen Prüfer bereits dahin festgelegt haben, daß eine Änderung der Note nicht in Betracht komme.

    Quelle: BVerwG, 6 C 38/92 ; Hailbronner, § 15

  • Eine Ausnahme vom Grundsatz der Neubewertung durch den Prüfer der Erstbewertung ist geboten, wenn die Prüfer befangen sind oder die Besorgnis der Befangenheit gerechtfertigt ist.

Keine Änderung der Bewertungskriterien

  • Das Ergebnis der Bewertung einer Prüfungsleistung darf durch eine erneute Bewertung, die wegen der Rechtswidrigkeit der ersten Bewertung vorgenommen werden muß, jedoch deshalb nicht verschlechtert werden, weil dies dem verfassungsrechtlich verankerten Gebot der Chancengleichheit zuwiderlaufen würde. Diesem Gebot ist auch bei der Festlegung der Rechtsfolge, die sich aus einer Verletzung des Prüfungsanspruchs ergibt, möglichst ungeschmälert Rechnung zu tragen. Daher darf ein Prüfer, dem ein Bewertungsfehler unterlaufen ist, bei der deshalb erforderlichen Neubewertung nicht seine Bewertungskriterien ändern, nach denen er im Rahmen des ihm zustehenden Bewertungsspielraums die Prüfungsleistung bewertet hat. Er muß vielmehr seine Bewertung durch Korrektur der als rechtsfehlerhaft beanstandeten Einzelwertungen ergänzen und die neu vorzunehmenden Wertungen in die komplexen Erwägungen, auf denen das Bewertungsergebnis beruht, einpassen.

Sonstiges

  • Insbesondere müssen in einer solchen Prüfung die Leistungsanforderungen und die Maßstäbe, nach denen die erbrachten Leistungen zu bewerten sind, gesetzlich geregelt sein (BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83 ). [...] Allein auf diese Weise kann in einer Demokratie das vom Volk gewählte Parlament als Gesetzgeber seiner Verwantwortung für das Gesamtwohl unter Beachtung der Grundrechte, Art. 1 III GG, gerecht werden. [...] Danach muß auch das Verfahren des "Überdenkens" von Prüfungsentscheidungen, soweit dies für einen effektiven Schutz des Grundrechts der Berufsfreiheit erforderlich ist, in seinen wesentlichen Merkmalen vom Gesetzgeber festgelegt werden.