Verfahren des Überdenkens
Anspruch des Prüflings
- Nach Art. 12 Abs. 1 GG müssen berufsbezogene
Prüfungsverfahren so
gestaltet sein, daß das Grundrecht der Berufsfreiheit
effektiv geschützt wird. Prüflinge müssen deshalb das
Recht haben, Einwände gegen ihre Abschlußnoten
wirksam vorzubringen.
Quelle: BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83
- Bei Staatsprüfungen, wie sie den Gegenstand der
Ausgangsverfahren bilden, erfährt der Kandidat stets
erst nach Erlaß des Prüfungsbescheides in
ausreichendem Umfange, wie seine Leistungen im
einzelnen bewertet worden und welche Erwägungen dafür
maßgebend gewesen sind. Erst im Widerspruchsverfahren
ist ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme und Kritik
eröffnet. Deshalb muß dieser Rechtsbehelf hier so
ausgestaltet sein, daß die erhobenen Einwände geprüft
und gewürdigt werden.
Quelle: BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83
- Stellt der Prüfling einzelne Wertungen substantiiert in Frage,
so ist die Prüfungsbehörde verpflichtet, die Einwendungen den
beteiligten Prüfern zuzuleiten. Diese haben auf der Grundlage
der Einwendungen eine Nachbewertung der Prüfungsleistungen
vorzunehmen, d. h. sie müssen innerhalb des ihnen zustehenden
prüfungsrechtlichen Bewertungsspielraums ihre frühere
Bewertung überdenken.
Quelle: BVerwG, 6 C 4.93
Aus Art. 12 I GG folgt bei berufsbezogenen Prüfungen ein Anspruch des Prüflings auf effektiven Schutz seines Grundrechts der Berufsfreiheit durch eine entsprechende Gestaltung des Prüfungsverfahrens; danach muß er das Recht haben, substantiierte Einwände gegen die Bewertungen seiner Prüfungsleistungen bei der Prüfungsbehörde rechtzeitig und wirkungsvoll vorzubringen und derart ein "Überdenken" dieser Bewertungen und maßgeblicher Beteiligung der ursprünglichen Prüfer zu erreichen (im Anschluß an BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83 ). [...]
Den Zweck eines möglichst rechtzeitigen und wirkungsvollen Schutzes des Prüflings in seinem Grundrecht der Berufsfreiheit kann das Verfahren des "Überdenkens" der Prüfungsentscheidung am ehesten dann erfüllen, wenn es möglichst zeitnah zur Prüfung vor einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren stattfindet. [...]
Die Notwendigkeit eines eigenständigen verwaltungsinternen Kontrollverfahrens in Prüfungsangelegenheiten für einen effektiven Grundrechtsschutz und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an dieses Verfahren hat das BVerfG in seinem Beschluß vom 17.4.1991 (BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83 ) näher dargelegt. Daraus ist zu entnehmen, daß dieses Verfahren nicht dadurch ersetzt werden kann, daß die Prüfungsbehörde Einwendungen des Prüflings - erst - im Verwaltungsverfahrensstreit würdigt.
Das BVerwG (möglicherweise ein Schreibfehler, gemeint war wohl BVerfG) hat bei berufsbezogenen Prüfungen unmittelbar aus Art. 12 I GG einen Anspruch des Prüflings auf effektiven Schutz seines Grundrechts der Berufsfreiheit durch eine entsprechende Gestaltung des Prüfungsverfahrens hergeleitet. Danach muß der Prüfling die Möglichkeit haben, Einwände gegen die Bewertungen seiner Prüfungsleistungen bei der Prüfungsbehörde "rechtzeitig und wirkungsvoll" vorzubringen, um derart ein "Überdenken" dieser Bewertungen unter Berücksichtigung seiner Einwände zu erreichen. Dieser Anspruch des Prüflings besteht zusätzlich zu seinem Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 19 IV GG; denn die Gerichtliche Kontrolle stößt - wie das BVerfG (BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83 ) ausgeführt hat - an Grenzen, weil der Bewertungsvorgang von zahlreichen Unwägbarkeiten bestimmt ist, die sich in einem Verwaltungsprozeß nur sehr schwer und teilweise gar nicht erfassen lassen; insbesondere ist die durch den Grundsatz der Chancengleicheit gebotene gleichmäßige Beurteilung aller vergleichbaren Kandidaten, zumal auf der Basis der persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen der beteiligten Prüfer, nur erreichbar, wenn den Prüfungsbehörden (genauer: den beteiligten Prüfern) bei prüfungsspezifischen Wertungen ein Entscheidungsspielraum verbleibt und die gerichtliche Kontrolle insoweit eingeschränkt wird. In eben diesem Maß stellt das eigenständige verwaltungsinterne Kontrollverfahren einen unerläßlichen Ausgleich für die unvollkommmene Kontrolle von Prüfungsentscheidungen durch die Verwaltungsgerichte dar und erfüllt damit zugleich - in Ergänzung des gerichtlichen Rechtsschutzes - eine Komplementärfunktion für die Durchsetzung des Grundrechts der Berufsfreiheit (vgl. auch BVerfG, BVerfGE 73,280 ).
Quelle: BVerwG, 6 C 35/92
- Damit das Verfahren des "Überdenkens" der Prüfungsentscheidung
seinen Zweck, das Grundrecht der Berufsfreiheit des Prüflings
effektiv zu schützen, konkret erfüllen kann, muß gewährleistet
sein, daß die Prüfer jedenfalls ihre Bewertungen von
schriftlichen Prüfungsleistungen hinreichend begründen
(vgl. BVerwG, 6 C 3/92 ), daß der Prüfling seine Prüfungsakten mit
den Protokollen der mündlichen Prüfung und den
Korrekturbemerkungen zu den schriftlichen Arbeiten einsehen
kann, daß die daraufhin vom Prüfling erhobenen substantiierten
Einwände den beteiligten Prüfern zugeleitet werden, daß die
Prüfer sich mit den Einwänden des Prüflings auseinandersetzen
und, soweit diese berechtigt sind, ihre Bewertung der
betroffenen Prüfungsleistung gegebenenfalls korrigieren sowie
alsdann auf dieser - möglicherweise veränderten - Grundlage
erneut über das Ergebnis der Prüfung entscheiden. Diese
verfahrensrechtlichen Gewährleistungen des Art. 12 I GG sind nur
in einem eigenständigen verwaltungsinternen Kontrollverfahren
unter maßgeblicher Beteiligung der betroffenen Prüfer zu
erfüllen.
Quelle: BVerwG, 6 C 35/92 ; BVerwG_6C32_92
- Dieser Anspruch des Prüflings auf ein verwaltungsinternes
Kontrollverfahren zum Zwecke des Überdenkens insbesondere der
prüfungsspezifischen Wertungen besteht indessen nicht
voeraussetzungslos. Dem Recht des Prüflings, auf vermeintliche
Irrtümer und Rechtsfehler wirkungsvoll hinzuweisen
(BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83 ) entspricht vielmehr nur dann eine Pflicht der
Prüfer zum Überdenken ihrer Bewertungen, wenn ihnen
"wirkungsvolle Hinweise" gegeben, d. h. die Einwände konkret und
nachvollziehbar begründet werden. Dazu genügt es nicht, daß der
Prüfling sich generell gegen eine bestimmte Bewertung seiner
Prüfungsleistungen wendet und etwa pauschal eine zu strenge
Korrektur bemängelt. Vielmehr muß er konkret darlegen, in
welchen Punkten die Korrektur bestimmter Prüfungsleistungen nach
seiner Auffassung Bewertungsfehler aufweist, indem er
substantiierte Einwände gegen Prüferbemerkungen und -bewertungen
erhebt. Macht er geltend, daß etwa eine als falsch bewertete
Antwort in Wahrheit vertretbar sei und so auch vertreten werde,
so hat er dies unter Hinweis auf entsprechende Fundstellen näher
darzulegen.
Quelle: BVerwG, 6 C 35/92
- Auch in den Fällen, in denen ein gerichtliches Verfahren noch
nicht anhängig ist, darf sich die Prüfungsbehörde nicht etwa
unter Hinweis auf die noch fehlenden gesetzlichen Vorgaben
darauf beschränken, substantiierte Einwendungen des Prüflings
gegen Bewertungen seiner Prüfungsleistungen schlicht
entgegenzunehmen und eine Stellungnahme dazu einem gerichtlichen
Verfahren vorzubehalten; vielmehr müssen solche Einwendungen, um
dem Gebot eines rechtzeitigen und wirkungsvollen Schutzes des
Prüflings in seinem Grundrecht der Berufsfreiheit bestmöglich
gerecht zu werden, unverzüglich den betroffenen Prüfern zum
Zwecke des Überdenkens ihrer Bewertungen sowie einer etwa
gebotenen Nachkorrektur zugeleitet werden. Dieses
verwaltungsinterne Kontrollverfahren unter maßgeblicher
Beteiligung der betroffenen Prüfer wird auch nicht dadurch
entbehrlich oder "überholt", daß der Prüfling, um nicht durch
Versäumung der einmonatigen Klagefrist (§ 74 VwGO) die
Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes zu verlieren, noch vor
Beendigung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens gegen den
Prüfungsbescheid - zusätzlich - mit einer
verwaltungsgerichtlichen Klage vorgeht. Auch verliert in einem
solchen Fall die Prüfungsbehörde dadurch nicht ihre Befugnis und
endet nicht ihre Pflicht, weiterhin in eigener Zuständigkeit und
Sachverantwortung die angefochtene Prüfungsentscheidung -
insbesondere die substantiiert angegriffenen
prüfungsspezifischen Wertungen unter Einschaltung der
betroffenen Prüfer - zu überprüfen und gegebenenfalls abzuändern
(BVerwG, 6 C 3/92 und BVerwGE_85_163 (166).
Quelle: BVerwG, 6 C 35/92
- Werden substantiierte Einwendungen des Prüflings gegen die Bewertung
seiner Prüfungsleistungen von den Prüfern im verwaltungsinternen
Kontrollverfahren bzw. Widerspruchsverfahren übergangen, ohne
daß der Mangel des Verfahrens nachträglich behoben wird, so ist
dem Prüfungsanspruch des Prüflings nicht genügt mit der Folge,
daß die Prüfungsentscheidung aufzuheben ist.
(gilt auch, wenn das Verfahren gar nicht durchgeführt wird).
Quelle: OVGNW, DVBl. 1996, 436 ; OVGSL_8R23_95; Zimmerling, Rn. 579, 647
Ursprüngliche oder andere Prüfer?
(Aus dem Leitsatz:)
Ist eine Prüfungsarbeit rechtsfehlerhaft bewertet worden (hier: eine vertretbare Lösung als falsch), sind grundsätzlich die ursprünglichen Prüfer bzw. der bisherige Prüfungsausschuß für eine nötige Neubewertung zuständig.
Eine Neubewertung einer Prüfungsarbeit durch neue Prüfer bzw. einen neuen Prüfungsausschuß ist geboten, wenn sich die ursprünglichen Prüfer bereits dahin festgelegt haben, daß eine Änderung der Note nicht in Betracht komme.
Quelle: BVerwG, 6 C 38/92
- Ein Prüferwechsel ist allerdings ausnahmsweise dann
erforderlich, wenn die Beanstandung der
Prüfungsentscheidung auf Bewertungsfehlern beruht, die
Ausdruck fehlender innerer Distanz zum Inhalt der
Prüfungsleistung sind, oder wenn sich die
ursprünglichen Prüfer bereits dahin festgelegt haben,
daß eine Änderung der Note nicht in Betracht
komme.
Quelle: BVerwG, 6 C 38/92 ; Hailbronner, § 15
- Eine Ausnahme vom Grundsatz der Neubewertung durch den
Prüfer der Erstbewertung ist geboten, wenn
die Prüfer befangen sind oder die Besorgnis der
Befangenheit gerechtfertigt ist.
Quelle: OVGNW, DÖV 1994, 392
Keine Änderung der Bewertungskriterien
- Das Ergebnis der Bewertung einer Prüfungsleistung darf
durch eine erneute Bewertung, die wegen der
Rechtswidrigkeit der ersten Bewertung vorgenommen
werden muß, jedoch deshalb nicht verschlechtert
werden, weil dies dem verfassungsrechtlich verankerten
Gebot der Chancengleichheit zuwiderlaufen
würde. Diesem Gebot ist auch bei der Festlegung der
Rechtsfolge, die sich aus einer Verletzung des
Prüfungsanspruchs ergibt, möglichst ungeschmälert
Rechnung zu tragen. Daher darf ein Prüfer, dem ein
Bewertungsfehler unterlaufen ist, bei der deshalb
erforderlichen Neubewertung nicht seine
Bewertungskriterien ändern, nach denen er im Rahmen
des ihm zustehenden Bewertungsspielraums die
Prüfungsleistung bewertet hat. Er muß vielmehr seine
Bewertung durch Korrektur der als rechtsfehlerhaft
beanstandeten Einzelwertungen ergänzen und die neu
vorzunehmenden Wertungen in die komplexen Erwägungen,
auf denen das Bewertungsergebnis beruht,
einpassen.
Quelle: BVerwG, 6 C 38/92
Sonstiges
- Insbesondere müssen in einer solchen Prüfung die
Leistungsanforderungen und die Maßstäbe, nach denen die
erbrachten Leistungen zu bewerten sind, gesetzlich geregelt sein
(BVerfG, 1 BvR 419/81, 213/83 ). [...] Allein auf diese Weise kann in einer
Demokratie das vom Volk gewählte Parlament als Gesetzgeber
seiner Verwantwortung für das Gesamtwohl unter Beachtung der
Grundrechte, Art. 1 III GG, gerecht werden. [...] Danach muß
auch das Verfahren des "Überdenkens" von Prüfungsentscheidungen,
soweit dies für einen effektiven Schutz des Grundrechts der
Berufsfreiheit erforderlich ist, in seinen wesentlichen
Merkmalen vom Gesetzgeber festgelegt werden.
Quelle: BVerwG, 6 C 35/92